In 2 Wochen sind Millionen Menschen in ganz Europa aufgerufen, das europäische Parlament zu wählen. Wir sehen deshalb schon seit einiger Zeit die Wahlplakate der unterschiedlichsten Parteien – und genau auf die möchte ich heute mal einen Blick aus rein ästhetischer Sichtweise werfen.
Anlass waren für diese Idee die Plakate der FDP. Der Spruch „Es ist nicht egal. Es ist Europa“ ist schon markant, auf den zweiten Blick aber auch etwas resignativ. Er impliziert ja, dass vielen Menschen Europa egal sei. Das ist Schade. Die Spitzenkandidatin mit dem komplizierten Namen, ich kürze sie mal als MASZ ab, ist in ebenso markanten Schwarz-Weiß-Fotos festgehalten. Das finde ich stimmig, ich mag ja Schwarzweißfotografie sehr gerne. Politisch betrachtet könnte allerdings die Sorge vor „Schwarz-Weiß-Malerei“ entstehen, das Fehlen von Zwischentönen und Buntheit irritiert, Vielfalt scheint man vergeblich zu suchen. Zu allem Überfluss könnte MASZ mit ihrem Styling auch einer Neuverfilmung von Graf Dracula entstiegen sein. Nach meiner Erfahrung passt dieses Bild ganz gut: Der knallharte Wirtschaftsadel saugt die Ärmsten bis auf den letzten Tropfen aus und zerfällt im Angesicht des Lichts der Verantwortung zu Staub 😉

Die CDU hat sich kürzlich eine neue CI (Corporate Identity) gegeben. Dazu zählt ein Logo, das mich an die Balkendiagramme von Wahlergebnissen erinnert. Ausgerechnet der schwarze Balken ist da am kleinsten. Wie bescheiden! Die Portraits sind solide fotografiert – das eingesetzte Haarlicht entspricht einer klassischen, konservativen Beleuchtung. Was mich aber irritiert, ist die Farbe. Für die Europawahl sind die Kandidaten der CDU von europäischen Sternen umkränzt. Das symbolisiert, dass sie in der Mitte Europas stehen. Oder es suggeriert, dass sie besonders positive Google-Bewertungen bekommen haben. Aber das Türkis! Nein, eigentlich Seegrün. Egal, es sieht ein bißchen ausgewaschen aus. Als ob es ursprünglich mal dunkelblau war, aber schon etwas älter ist. Zu oft gewaschen, kein Perwoll benutzt. Irgendwie abgenutzt statt frisch. Ich weiß nicht …

Bei der SPD könnte man behaupten: Nicht schlimm, wenn Hopfen und Malz verloren sind, Hauptsache, die Gerste steht noch. Die Spitzenkandidatin hat sich den Kanzler als Partner aufs Foto geholt, und man rätselt, wer wessen Unterstützung dringlicher benötigt. Das Foto ist eine ziemliche Katastrophe, weil der Kanzlerkopf überproportional vergrößert wurde. Frau Barley ist sowieso schon glubschäugig, deshalb stimmen auch bei ihr die Proportionen nicht ganz. Soll das symbolisieren, die beiden seien „Kopfmenschen“? Es irritiert. Die Montage ist ebenfalls seltsam, denn die Kandidatin wirft keinerlei Schatten auf den Kanzler. Wenigstens bei der Hintergrundfarbe kann sich die SPD nicht irren.

Die Grünen, die auf ihren Plakaten natürlich auch mit dem Vizekanzler als Zugpferd werben, legen eine desaströse Webseite vor. Die sieht aus wie aus den 90er Jahren. Oder ist die nur für die Generation Smartphone gemacht? Ästhetisch leider murks. Und die Spitzenkandidatin ist so absurd geschminkt, das ich mich frage, wer das verbrochen hat. Das hat schon fast abschreckende Wirkung – was ich angesichts der wichtigen Ziele dieser Partei sehr schade finde. Abgesehen vom „Lipglossgate“ ist das Portrait von Frau Reintke das einzige, das nicht im Studio entstanden ist. Es hat dadurch etwas modern-urbanes – inklusive dynamisch wehender Haare. Das versöhnt ein bißchen …

Dass die AFD die faschistischen Hackfressen ihrer Kandidaten gar nicht erst zeigt, ist natürlich ein Pluspunkt, sonst müsste man direkt kotzen. Die Ansagen sind aber natürlich unmißverständliches Schubladendenken. Wir gegen die. Egoisten, die aus der EU austreten wollen, denn: „Unser Land zuerst“. Warum wollen sie dann überhaupt in das europäische Parlament? Dort träfen sie doch nur auf Ausländer …

Ob der Wahlkampf der Linken abgeht wie eine Rakete, wird sich zeigen. Die Homepage ist jedenfalls aufgeräumt, unaufgeregt und zeigt nicht einzelne Kandidaten, sondern ein Team. Sympathisch. Das Foto ist modern und sauber fotografiert – die Bildmontage besser ausgeführt als bei Scholz/Barley. Aus ästhetischer Sicht hätte ich keine Einwände.

Eigentlich wollte ich nach dieser Auswahl von Parteien aufhören, aber ich komme nicht an Sahra vorbei. Sie steht quasi vor meiner Haustür. Also, ihr Plakat. Die neue „Linkskonservative“ verwirrt mich stets in orthografischer Weise – ihr Portrait ist hingegen makellos. Für mich das beste Foto des Wahlkampfs, vorausgesetzt, man steht auf den stets etwas pastoral-streng wirkenden Look von Frau Wagenknecht. „Kreuz! Mich! An!“ (für diejenigen, die sich noch an die nächtliche Werbung auf RTL in den 90ern erinnern 😉

Im Gegensatz zu diesem nicht ganz ernst gemeinten Artikel ist es äußerst wichtig, an demokratischen Wahlen teilzunehmen und sie ernst zu nehmen. Gehen Sie am 9. Juni wählen! Und auch bei allen anderen anstehenden Wahlen! Bedenken Sie auch mögliche Konsequenzen für sich selbst, wenn Sie der Meinung sind, mit ihrer Wahl einen „Protest“ ausdrücken zu wollen. Informieren Sie sich bei unabhängigen Medien über die politischen Ziele der Parteien. Nutzen Sie gegebenenfalls den Wahlomat. Und wenn Sie das verworrene System der Europäischen Union nicht so richtig durchschauen: Hier wird es kinderleicht erklärt.


Antwort auf „Europawahl: Eine ästhetische Kritik”.
[…] vergangenen Sommer habe ich bereits die Europawahl einer ästhetischen Betrachtung unterzogen – und finde es spannend, dies anlässlich der bevorstehenden Bundestagswahl zu […]