In einer Phase, die durch eine Pandemie, immer heftigere klimatologische Veränderungen, autokratische Aggressoren und eine zerbröselnde westliche Demokratienlandschaft gekennzeichnet ist, lohnt es sich, über Freiheit nachzudenken. Die meisten Menschen in Europa sind glücklicherweise in Freiheit aufgewachsen, weshalb es umso unverständlicher ist, dass sich viele nun nach einer starken (rechtspopulistischen) Hand sehnen.
Während Unternehmer an vertragliche oder budgetäre Grenzen stoßen, Ingenieure mit den physikalischen Grenzen kämpfen und Flüchtende geografische Grenzen überwinden, gedeiht Kreativität am besten in Freiheit – sollte man meinen. Eine blanke Leinwand oder eine leere Bühne, ohne thematische Vorgabe oder Deadline, erzeugt aber in den wenigsten Menschen einen kreativen Furor. Eher entsteht eine kreative Blockade.
Dass Künstler deshalb oft selbst Grenzen stecken, sich Beschränkungen auferlegen, um ihre Kreativität zu stimulieren, dürfte keine neuartige Erkenntnis sein. Ich denke da z.B. an „Cocktail für eine Leiche“, Hitchcocks Kammerspiel ohne (sichtbare) Kameraschnitte oder an James Joyce´ Ulysses – dem Roman, der nur an einem einzigen Tag spielt. Arnold Schönberg ist für seine Zwölftonmusik bekannt, Piet Mondrian für seine rechten Winkel und Primärfarben. Wenn Stravinsky im „Frühlingsopfer“ auf Taktangaben verzichtet – ist das dann unendliche Freiheit oder doch eine Beschränkung?
Selbstverständlich gilt diese Formel auch in der Fotografie. Wer als „Spezialist für alles“ punkten will, wird schnell an Glaubwürdigkeitsgrenzen stoßen. Deshalb ist es üblich, dass Fotografen eine Nische besetzen und sich auf ein Thema beschränken. Hinter dieser eher geschäftlichen Entscheidung verstecken sich aber häufig auch selbst gesuchte Grenzen im Workflow oder in der verwendeten Technik, die gar nicht immer offensichtlich sind – die aber sehr wohl zur Wiedererkennbarkeit, zum Stil des Fotografen beitragen. Das kann ein „signature lighting“ sein, der Verzicht auf Farben oder die Beschränkung auf eine einzelne Brennweite.
Was in diesem Zusammenhang ganz wichtig ist: Die Selbst-Beschränkung ist eine Freiheit. Sie ist selbstgewählt, nicht von außen okroyiert. Das kann nur funktionieren, wenn die Rahmenbedingungen (eine gewisse) Freiheit zulassen. Und diese selbstgesteckten Grenzen können und dürfen sich jederzeit ändern! Vielleicht sind sie nur Ansporn für ein einzelnes Projekt, vielleicht werden sie zu einem Markenzeichen. Als Ergänzung: Selbstverständlich gedeiht Kreativität auch in Unfreiheit. Da geht es aber eher um Subversion oder Rebellion. Anderes Thema.
Um auf den ersten Absatz zurückzukommen: Nach meiner Beobachtung sind es oft jene, die mit Autoritarismus kokettieren, die für sich selbst eine maximale Freiheit einfordern („Freie Fahrt für freie Bürger“ etc.). Ich glaube, es müsste umgekehrt sein: Unsere Gesellschaft sollte ein maximales Pensum an Freiheiten bieten, während wir mit uns selbst etwas restriktiver umgehen sollten. Das hilft auch gegen Übergewicht 😉
Ich finde dieses Thema auch spannend, weil ich mir selbst oft einen Rahmen stecke, innerhalb dessen ich meine Projekte realisiere. Vielleicht kennen Sie weitere bekannte Beispiele? Vielleicht empfinden Sie das aber auch ganz anders – dann lassen Sie mir gerne einen Kommentar da. Vielleicht entwickelt sich eine interessante Diskussion daraus …
Ein paar Links mit Lesestoff zu diesem Thema möchte ich ebenfalls dalassen:
- Ein Fotograf, der ausschließlich sein 50mm-Objektiv verwendet: https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=z_DZ4Jf3PEE
- Über die Verkleinerung der Auswahl: https://bigthink.com/mind-brain/why-imposing-restrictions-can-actually-boost-creativity/
- Wie man aus Zäunen Leitern macht (mit etlichen wissenschaftlichen Verweisen):https://blogs.lse.ac.uk/psychologylse/2021/06/09/turning-fences-into-ladders-is-restriction-the-saviour-of-creativity/
- Über fleischlose Burger und plastikfreie Regenjacken: https://www.linkedin.com/pulse/force-limits-upon-yourself-see-your-creativity-field-youre-holtum/


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