Till Erdmenger – Businessfotos | Blog

Lerne die Regeln, bevor Du sie brichst

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Neulich platzte mir der Kragen. Danach hatte ich kein schlechtes Gewissen – ich kam mir einfach alt und spießig vor. Und das kam so: In einer Caffenol-Gruppe auf Facebook entdeckte ich zum wiederholten mal Fotos, die schlecht belichtet waren, schlecht entwickelt waren und schlecht gescannt waren. Von den Motiven sprechen wir jetzt gar nicht erst. Ich hinterließ einen kritischen Kommentar, brachte meine Verwunderung über die schlechte Qualität zum Ausdruck und gab den gut gemeinten Hinweis, dass es absolut keine Raketen-Wissenschaft ist, ein paar Haushaltsmittelchen in Wasser aufzulösen und darin einen Film zu entwickeln. Die furchtbar vielen mißlungenen Entwicklungs-Versuche suggerieren, dass es sich bei Caffenol um einen Spaß-Entwickler handele, der zu schlechten Ergebnissen führt. Das Gegenteil ist jedoch der Fall! Nach meiner Erfahrung kann man mit Caffenol einfach, günstig, leicht verfügbar und zuverlässig hochwertige Film-Entwicklungen durchführen.

Ich habe ein paar Tage später nochmals in die Facebook-Gruppe reingeschaut: Der Themenersteller behauptete in einer Antwort tatsächlich, die Art der Ergebnisse sei Absicht und ich hätte nicht erkannt, welche Parameter er variiert habe. Das war der Moment, als ich dachte: Jetzt ist es soweit, Du alter weißer Besserwisser! Aber irgendwie hat es mich nicht losgelassen, vor mir selbst eine Rechtfertigung zu finden. Mir fielen allerhand Vergleiche ein: Vermutlich würde niemand behaupten, Arnold Schönberg habe 12-Ton-Musik gemacht, weil er keinen Bock darauf hatte, mehr Noten zu lernen. Es ist abwegig zu glauben, bei Hervé This sei das Wasser angebrannt und er habe sich deshalb der Molekularküche gewidmet. Auch von Pablo Picasso wissen wir, dass er den Pinsel richtig herum halten konnte – er beeinflusste den Kubismus dennoch maßgeblich mit seiner Art der Malerei. Was ich damit zum Ausdruck bringen will ist, dass diese Menschen in ihrem Fach hervorragend ausgebildet und talentiert waren und wußten, welche Parameter man ändern kann oder muß, um entscheidend Neues zu schaffen. Ihnen und ihrem Schaffen kann man die Absicht anmerken, das Wissen, die Überlegung, die künstlerische Bildung. Wer als Dünnbrettbohrer auf das Fundament verzichten zu können glaubt, erntet Zufallsergebnisse. Das ist auch eins der wichtigsten Argumente für professionelle Fotografie – die verlässliche Wiederholbarkeit von Ergebnissen, damit Kunden nicht mit den wenigen „zufällig guten“ Fotos abgespeist werden. In diesem Punkt unterscheidet sich professionelle Fotografie auch deutlich von den KI-generierten Bildchen, die jedesmal neu und zufällig entstehen und die (auf visueller Ebene, nicht unbedingt auf inhaltlicher) vollkommen absichtslos, also banal, sind.

Dass ich als alter Fuzzi, der mit analoger Fotografie aufgewachsen ist, eine andere Herangehensweise als viele junge Fotografen habe, hatte ich schon häufiger bemerkt und hier formuliert. Ich will mit diesen Zeilen niemandem den Spaß an der Fotografie nehmen – zu experimentieren finde ich selbst immer wieder spannend. Sich aber aus Faulheit mit trashigen Ergebnissen zufrieden zu geben, ist dumm – nicht künstlerisch. Es gibt keinen Grund, mich altmodisch oder spießig fühlen zu müssen 😉 Film is not dead!

Ein Treppenaufgang im Vatikan, fotografiert im Frühjahr 2023 mit einer Canonet 19 GIII QL von 1973 auf Ilford FP4 Plus, entwickelt in Caffenol Delta.

Antworten auf „Lerne die Regeln, bevor Du sie brichst”.

  1. Hat uns Social Media von spießigen Regeln befreit? – Till Erdmenger – Businessfotos | Blog

    […] Bezug auf fotografische Regeln hatte ich hier bereits ein paar Zeilen hinterlassen, demnächst gibt es auch noch ein Video dazu. […]

  2. Tubelog: Fotografische Regeln – nervig aber sinnvoll?! – Till Erdmenger – Businessfotos | Blog

    […] bleibt dann manchmal auf der Strecke. Ich verfolge keine oberspießige Agenda, behaupte aber mal: Nur wer die Regeln kennt und sich bewußt und beabsichtigt darüber hinwegsetzt, kann dabei auch kre…. Pure Ignoranz oder Unwissenheit führen in der Fotografie meistens zu schlecht gestalteten, […]